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Georgien: Drei Fragen am Himmel über dem Kaukasus

Freitag, 17. Mai 2019

Georgien: das ist der Kaukasus, das ist das Schwarze Meer. Aber vor allem: das ist der fragende Blick zum russischen Nachbarn. Ein Drama in Bildern.


Georgien ist ein sehr altes Land.

Man stelle sich vor, Szenen aus der Vergangenheit könnten schnappschussartig eingefangen und aneinandergereiht in einem langen Strom von bunten Bildern durch die Luft schweben und wabern. Was wäre in dem Fluss zu erkennen?

Eine Jagdszene. Kurz taucht ein riesiges Messer auf, ein Stein, dessen Spitze zu einer scharfen Waffe geschliffen wurde. Ein Arm, der sich hebt, ein gigantisches hirschähnliches Tier, das sich, gerade noch im freien Lauf, auf einmal dem Arm zuwendet und das furchterregende Geweih zum Kampf senkt. Das ist schon sehr lange her. Funde der ersten Menschen stammen aus dem Kaukasus.

Doch schon verblasst das Bild. Es tauchen neue Menschen auf, die sich merkwürdig gebaren. Tanzen sie, oder beschwören sie Geister? Weder noch, sie zerstampfen etwas, Beeren – jetzt erkennt man: es sind Weintrauben. Ein Junge hebt einen Krug und trinkt. Seine Augen leuchten.

Es folgen Bilder von römischen Soldaten in kurzer Tunika, die schäbiger aussehen, als man sich das allgemeinhin so vorstellt. Ein Römer steht da im Gespräch mit einer hellblonden Frau – der Betrachter des Bilderstroms fragt sich erstaunt, ob das eine Georgierin sein mag – und scheint sich unbehaglich zu fühlen. Die Frau sieht ärgerlich aus, sie hebt einen Finger und deutet beschuldigend auf den Soldaten.

Schon schiebt sich eine weitere Szene vor: Orientalische Reiter mit langen, bunten Mänteln und spitzen Hüten. Sie tragen Armbrust, Krummdolch oder lange Speere: Seldschuken. Sie reiten in das Nichts. Als nächstes tritt die Figur einer kleinen Frau mit einer Krone hervor, - so groß die Krone, dass der Kopf sie kaum halten kann. Königin Tamara, stolze Herrscherin des goldenen Zeitalters.

Die Bilder kommen und gehen. Menschen arbeiten, kämpfen, essen, trinken. Eine Gruppe unterwürfig wirkender Männer steht in einer Stadt, die wie das russische St. Petersburg aussieht. Ja, es ist St. Petersburg. Es sind georgische Gesandte, die den Zaren um Unterstützung bitten. Und der kommt, er kommt sehr gern. Jetzt sieht man die Fahne des Zaren an der Küste und in den Bergen wehen. Und schon geht es weiter.

Ein großer Tisch, viele Töpfe und Krüge, Männer, die ein Horn in der Hand halten, Frauen, die tanzen, andere, die den Männern das Horn entwinden. Ein Fest? Schon wieder vorbei. Da taucht der Sowjetstern auf. Plötzlich erschrickt man: das starre Gesicht eines Ungeheuers schiebt sich in den Vordergrund. Schmale Lippen, breite Stirn – man erkennt auf einmal: das ist Stalin. Er hebt befehlend die Hand, und schon fallen Menschen, Bleikugeln im Bauch, im Rücken, im Kopf und im Herzen.

Nun wird es laut und geschäftig. Züge rattern durch das Land, Gleise werden gebaut. Hier eine Fabrik mit rauchenden Schloten. Davor zwei Frauen, beide ernst, sie sehen ungerührt aus. Ein Feld mit Teepflanzen in Reih und Glied wird sichtbar. Stolz halten Teepflückerinnen ihre Ernte in die Höhe.

Dann wieder eine andere Szene: ein seichter Fluss. Auf einem Baumstamm, der mitten im Wasser liegt, sitzt ein Junge, er trägt einen Hut, der aussieht, als sei er aus Pantherfell genäht. Stolz stützt er einen Arm in die Hüfte und blickt herausfordernd. Neben ihm sitzt eine Frau mit schwarzem Haar, deren Züge europäisch und asiatisch zugleich wirken. Bevor man überlegen kann, welches Jahr jetzt gerade vorüberfließt, erscheinen Panzer auf einer breiten Straße. Auf einem Straßenschild tauchen gleich drei Namen auf: in lateinischen Buchstaben liest man Rustaveli Avenue, darunter in Kyrillisch Rustaveli Prospekt, die schönste Schrift ist georgisch: Rustavelis Gamsiri. Aber was ist da los? Es sind so viele junge Menschen unterwegs, sie heben die Fäuste, halten Schilder in die Höhe, auf denen „Freiheit“ steht. Aber die Panzer rollen auf sie zu, russische Panzer.

Dann flackert das letzte Bild durch die Luft. Ein Weinberg. Ein großes Holzfass. Ein Mann, der eine Flasche abfüllt.

Es scheint: Alles beginnt und endet mit Wein.

Georgien ist ein sehr altes Land. Es hat viel gesehen, unzählige Kriege erlebt: selbst initiierte Kriege und andere, die ungefragt kamen. Es gab starke Königinnen und Könige, überlegene Armeen, die, gerade noch besiegt und zerschlagen, jetzt neu erstarkt zur Unterdrückung anderer Völker aufbrechen. Es gab viele, viele Zeiten der Fremdherrschaft. Und es sind drei große Fragen, die sich dem staunenden Betrachter des Bilderstroms stellen, drei riesige Schriftzüge, die sich durch die Luft ziehen und alles überschreiben, was war, was ist und was sein wird:

Unser Wein – worauf wollen wir anstoßen, und was soll er uns vergessen machen?

Europa und Asien – wollen wir unsere Identitäten leben, oder wollen wir sie bekämpfen?

Unser großer Nachbar im Norden – wollen wir die lange Tradition der Unterordnung unter seine Macht fortsetzen, oder wagen wir die Freiheit?

Manchmal sind die Fragen ganz kurz und einfach. Schwierig sind die Antworten.  


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